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  • Anne Stevens

»48 Stunden ...« Blogroman Teil 6

Katja. »Was tust du da?« Gerrit beobachtete Katja aus zusammengekniffenen Augen.

»Knast-Beschriftung«, ließ sie ihn knapp wissen und zog den Kajal-Strich auf der Wand sorgfältig nach.

Er blinzelte.

Sie spendierte ihm eine Erklärung. »Falls der Fahrstuhl nächstes Wochenende wieder bockt und Passagiere in dieses tote Stockwerk spült, werden sie wissen, dass sie nicht allein sind. Es gibt Hoffnung. Sie müssen nur ...« Sie sah auf die Uhr und überschlug die Zeit. »Nur achtundvierzig Stunden durchhalten, bis der Putztrupp kommt und sie erlöst.«

Sein Blick gewann an Ernsthaftigkeit. »Ist das irgendeine seltsame Form von Nervenzusammenbruch, die ich nicht kapiere?«

»Möglich. Ich war noch nie in so einer Situation. Aber ich stelle mir vor, dass es uns hilft, zu sehen, dass die Zeit tatsächlich vergeht.« Während sie im Fahrstuhl ständig einen seltsamen Druck auf den Ohren verspürt hatte, klang auf dieser Etage alles dumpf und abgehackt. Als säßen sie in einem Vakuum. Das machte die verfahrene Situation noch unwirklicher. Als wären sie aus der Welt. Da half es auch nicht, eine Toilette und eine Waschgelegenheit zu haben. Hier draußen war es schlimmer als in dem engen Lift. Hinzu kam, dass das Essen nicht lange vorgehalten hatte. Katjas Magen knurrte schon wieder, trotzdem würde sie sich zurückhalten müssen.

»Erzähl mir etwas von dir«, bat Katja und machte es sich auf ihrer Yoga-Matte bequem.

»Was willst du wissen?«

»Vermisst dich jemand?«

»Autsch!«

»Was denn?«

»Na, du hast eine unnachahmliche Art, mir klarzumachen, dass ich absolut entbehrlich bin.«

Sie hob die Brauen. »Woher soll ich wissen, dass du niemanden hast?«

»Ist ja schon gut«, brummte Gerrit und machte es sich ebenfalls bequem, indem er sich lang ausstreckte, auf die Seite drehte und das Kinn in seine Hand stützte. »Ich bin nicht der Typ für Beziehungen. Dazu arbeite ich zu gern. Wie sich herausgestellt hat, haben die meisten Frauen die Idee, Zeit mit ihrem Partner zu verbringen. Den Vorhaltungen war ich nicht gewachsen.«

»Ha, ha. Wäre ich eine Dating-Webseite, würde ich jetzt ein Kästchen aufpoppen lassen, in dem steht: Das haben Sie sich fein zurechtgelegt. Und jetzt denken Sie bitte noch einmal nach und suchen das charakterliche Defizit, das zu Ihrer Einsamkeit geführt hat.« Katja grinste frech.

»Meines Wissens habe ich keins. Aber mach nur so weiter, dann werde ich eins entwickeln.«

»Wooho! Drohst du mir?« Sie klang nicht ängstlich. Ganz im Gegenteil. Langsam begann dieses Geplänkel Spaß zu machen. Davon abgesehen lenkte es herrlich ab. »Was tun eigentlich all die Leute, die im Knast sitzen und tagaus tagein warten?«

»Striche an die Wand malen«, gab Gerrit lakonisch zurück. »Übrigens finde ich, dass der Vergleich hinkt. Wir haben weder drei Mahlzeiten noch ein Fenster. Kein Fitness-Raum, kein Therapeut, null Hofgang.«

Katja lachte. »Du bist ein wahrer Sonnenschein. Und so positiv. Es ist ein Wunder, dass keine Frau zu Hause sitzt und dich verschollen meldet.« Irgendetwas ritt sie, seinen Beziehungsstatus genauer auszuloten. Auch wenn sie nicht wusste, warum.

»Umgekehrt könnte ich das Gleiche sagen.«

Katja zuckte die Achseln. »Es gibt ihn. Allerdings ist er seit einem Jahr in Afrika.«

»Oh mein Gott! Habe ich jetzt etwa über deine Beziehung zu einem Idealisten gespottet, der mit bloßen Händen Brunnen buddelt und segensreiche Impfdosen in die Wüste trägt?«

Katja verzog gespielt verärgert das Gesicht. »Hast du. Mark ist praktisch ein Heiliger. Ich bete ihn an.«

Es gefiel ihr, wie schuldbewusst er aussah. Sie kicherte. »War nur ein Scherz. Er ist in Kenia und leitet ein großes Hotel. Ich wollte ihn besuchen, aber dann kamen die Reisebeschränkungen.«

»Also eine Fernbeziehung unter verschärften Bedingungen. Würde ich persönlich nicht durchhalten.«

Das hatte gesessen. Sie selbst glaubte schon lange nicht mehr, dass Mark treu war. Seit sie beim Skypen ein roséfarbenes T-Shirt hinter Mark auf dem Bett gesehen hatte, in das bestenfalls sein rechter Arm gepasst hätte, suchte sie bei jedem Video-Telefonat nach neuen Hinweisen auf irgendwelche. Bisher zum Glück vergeblich, aber das musste nichts heißen. Mark war kein Idiot und empfänglich für Stimmungen. Garantiert hatte er gemerkt, wie reserviert sie an diesem Tag gewesen war, und anschließend besser aufgepasst, was in seinem Zimmer herumlag. Andererseits konnte es ein einmaliger Ausrutscher gewesen sein. Manchmal drängte es Katja, ihn danach zu fragen. Dann wieder sagte sie sich, dass das kein Thema für ein Gespräch über tausende von Kilometern war. Sie wollte ihm in die Augen sehen können, wenn sie es ansprach. Wirklich in die Augen, nicht in das verpixelte Abbild.

»Erde an Katja – bist du noch bei mir?«, rief Gerrit sich in Erinnerung.

»Hm, ja, ich ... ich war nur in Gedanken. Also: Mark ist nur für zwei Jahre da unten. Die Hotelkette, bei der er gelernt hat, wollte ihm Auslandserfahrung ermöglichen. Aber danach holen sie ihn zurück.«

Gerrit schien wenig überzeugt. Als hätte er ihr kurzes Stimmungstief bemerkt. Trotzdem zuckte er lässig die Achsel seines freien Arms zum Ohr und verkündete: »Klar, irgendwann ist selbst im besten Kleinstaat jeder geimpft und alle Brunnen sind gegraben. Dann ist es besser, so einen Überlebensspezialisten zurückzuholen, damit er hier aufräumt.« Der beiläufige Tonfall gelang ihm nicht wirklich, aber sie rechnete ihm hoch an, dass er versuchte, die Stimmung zu retten.

»Wieso bist du tatsächlich allein?« Katja legte sich ebenfalls auf die Seite. Ihre Gesichter waren maximal einen Meter voneinander entfernt, obwohl der Flur riesig war. Seltsam, dass sie sich dermaßen zusammenrotteten. Immerhin kannten sie sich kaum. »Ich meine, du willst sicher nicht erst mit fünfzig Vater werden, hast massig Geld, siehst gut aus ...« Als sie den zufriedenen Zug um seine Mundwinkel registrierte, ruderte sie zurück. »Zumindest auf einen gewissen Typ Frau dürftest du anziehend wirken.«

»Ach, auf dich nicht?« Er lachte leise über den lahmen Versuch, mit dem sie ihre Worte relativiert hatte.

»Sei nicht so selbstgefällig. Niemand ist gern mit jemandem eingesperrt, der vor dem eigenen Spiegelbild masturbiert.«

»Okay, wir versuchen es rational. Sag mir doch mal, wieso ich jetzt schon Vater werden sollte. Wie du festgestellt hast, muss ich nicht jeden Cent dreimal umdrehen und bin mit Genen beschenkt, die nicht auf den ersten Blick nahelegen, dass ich mit Quasimodo verwandt bin. Warum soll ich nicht meinen Spaß haben?«

»Weil dich Spaßbräute nicht polizeilich suchen lassen, wenn du an einem Freitagabend im Büro festsitzt. Außerdem stelle ich es mir reichlich anstrengend vor, mit fünfzig ein Kind in die Welt zu setzen und jede Nacht raus zu müssen. Die Natur hat das mit der Libido schon ganz clever eingerichtet. Findest du nicht?« Anna grinste ihn breit an. »Und jetzt stell dir vor, du hast dein Pulver blind verschossen und es klappt nicht mehr ... dann musst du deine schöne Firma einem Wildfremden übergeben.«

Gerrit ließ sich zurückfallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und guckte an die Decke, die mit selten hässlichen Rigips-Platten abgehängt war, was Katja sah, als sie sich ebenfalls flach hinlegte.

»Ich stelle mir vor, dass ich Kinder möchte, wenn ich die richtige Frau treffe«, sagte er unvermittelt ernst, als sie schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechnete. »Wenn ich manche Singles reden höre, die um jeden Preis ein Kind wollen ... tut mir leid, das verstehe ich nicht. Ich stelle mir vor, dass ich mich irgendwann jemandem so sehr in Liebe verbunden fühlen werde, dass ich nicht möchte, dass diese Liebe ohne ein Echo verpufft, wenn wir sterben. Der Gedanke, dass ein Kind als sichtbares Zeichen dieser Liebe überlebt, gefällt mir.«

Katja schluckte. »Wow, das hast du wirklich schön gesagt.«

Sie rechnete damit, dass er es mit einem Scherz abtun würde, wie so manches, das ihm vorher entschlüpft war. Dass er es nicht tat, zeigte ihr, wie ernst ihm das war. Seltsam, wieso fing ihr Herz bei dem Gedanken an zu rasen? Lag es daran, dass Mark noch nie so etwas Schönes zu ihr gesagt hatte? Dass er wollte, dass ihre Liebe überdauerte? Überhaupt hatte er lange nicht von Liebe gesprochen.

Katja versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, mit Mark hier festzusitzen. Er würde wie ein Berserker an den Türen rappeln. Natürlich ließe sich dadurch kein bisschen erreichen. Aber er wäre niemals so abgeklärt, so gelassen wie Gerrit. Würden sie sich streiten? Sicher. Mark hasste es, wenn Katja ängstlich war und die Stille mit vorlauten Sprüchen füllte.

Verstohlen sah sie rüber zu Gerrit, der die Augen geschlossen hatte und ganz ruhig atmete.

Sie lächelte. Das war ihre erste gemeinsame Nacht. Nur war sie nicht das Material, von dem man bei heißen Junggesellenabschieden erzählte. Was hier passierte, würde sie vielleicht überhaupt nie erzählen. Weil der Gedanke, dass diese achtundvierzig Stunden und alles, was darin gesagt wurde, nur ihr gehörte, sich gut anfühlte.


Weitere Teile des Blogromans »48 Stunden zwischen Himmel und Parterre« lesen Sie immer montags und donnerstags.


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