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  • Anne Stevens

»Die Zeuginnen« mein Hörbuch-Tipp

Ist es witzlos, den zweiten Teil zu empfehlen, wenn man den ersten nicht gehört/gelesen hat? Egal, ich tu's trotzdem und hole kurz aus. Den Anfang von Margaret Atwoods ebenso faszinierender wie verstörender Dystopie »Der Report der Magd« habe ich in einem Serien-Sucht-Marathon auf Prime geschaut. Da heißt die Serie »The Handmaids Tale«. Drei Staffeln sind online, der Start der vierten verschiebt sich Corona-bedingt. Was ich nicht kapiere. Wann, wenn nicht jetzt, haben die Leute Zeit, eine ganze Staffel in einem Rutsch zu schauen? Na, na? Nie! So sieht's aus. Ist hier aber nicht das Thema.

Zur Handlung Die Grundidee eines religiösen Staates, der Frauen zurück ins Mittelalter katapultiert, ist ebenso bedrückend wie faszinierend. Hinzu kommt, dass nach einem atomaren Krieg ein großer Teil der Menschheit unfruchtbar ist, womit gesunde Frauen auf ihre Gebärfähigkeit reduziert werden. Sie dürfen nicht arbeiten (außer im Haushalt), keinen Besitz haben, nicht lesen lernen, reden nur nach männlicher Aufforderung, müssen sich gemäß ihrer Rollen uniform kleiden.

Ihre Identität reduziert sich auf ihre Funktion, ebenso ihr Name. Frauen, die in den Haushalten mächtiger Kommandanten arbeiten, heißen Marthas und kleiden sich in Sackleinen. Frauen, die gebärfähig und vor dem Putsch der religiösen Fanatiker durch lose Moral aufgefallen sind (Alleinerziehende, Frauen, die abgetrieben haben), werden als Gebärmaschinen verliehen und bekommen den Namen ihres jeweiligen Besitzers. Wer bei Fred liebt, ist »des Fred« - also lautet der Name Desfred. Wird sie an den nächsten verliehen, ändert sich der Name, nur die Silbe »Des« bleibt ihr erhalten, ebenso wie die roten Kleider und die weißen Haarhauben.

Männer besetzen in der puritanischen Theokratie von Gilead alle wichtigen Posten, stellendie Regierung und strafen Frauen nach dem stringenten Moralkodex der Pseudoreligion der Söhne Jacobs.

Die erste Staffel, die sich weitgehend am Buch von Margaret Atwood orientiert, macht in erdrückenden Bildern klar, warum die Frauen nicht aufbegehren. »Und ärgert dich ein Auge, so reiß es aus ...« Heute undenkbar - nicht aber in Gilead. Frauen, die aufbegehren, verlieren ein Auge. Werden sie beim Lesen erwischt, verlieren erst einen Finger, im Wiederholungsfall die ganze Hand. Frauen, die wegzulaufen versuchen, werden die Fußsolen blutig gepeitscht. Ehebruch und Verrat bringen Menschen »an die Mauer«, wo sie aufgeknüpft werden. Alternativ gibt es Steinigungen und öffentliche Massenhinrichtungen. Drakonische Strafen und eine Gesellschaft, die durchsetzt ist von Spitzeln des totalitären Regimes, machen begreifbar, warum Frauen, die vor dem Putsch als Richterinnen, Ärztinnen, Journalistinnen gearbeitet haben, sich widerspruchslos in die Rolle des in Sackleinen gekleideten Hausmütterchens oder der Gebärmaschine (der Handmaid) pressen lassen.

Diese Welt ist ebenso bedrückend wie brillant durchdacht. Das System der Tanten, Religions-Wächterinnen, die Frauen anleiten, bestrafen, verraten. Das Leid der Mägde, die in religiösen Zeremonien vergewaltigt, geschwängert und anschließend gezwungen sind, die Babys zu stillen, bis sie die Kinder als legitime Nachfahren ihrer Vergewaltiger hergeben müssen und in die nächste Familie verlieren werden.

Nun ist das keine Dokumentation, deshalb gibt es mit der Magd Desfred eine starke, kämpferische Identifikationsfigur. Mit den Staffeln wundert man sich zunehmend, warum Desfred mit allem durchkommt, während andere für die kleinsten Vergehen aufgeknüpft werden. Aber so ist das eben, wenn man es nicht mit einer starken Geschichte bewenden lässt und sich gezwungen fühlt, immer weitere Absurditäten zu ersinnen.

Tja, ich wollte die vierte Staffel nicht abwarten. Ohnehin ist keine so stark wie die erste, die auf Margaret Atwoods Buch basiert. Weswegen ich mir das Hörbuch »Die Zeuginnen« gekauft habe. Drei Zeuginnen - eine Tante und zwei Kinder einer Handmaid -, deren Lebenswege eng miteinander verwoben sind, erzählen von den letzten Tagen Gileads. Sehr zu empfehlen!


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