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  • Anne Stevens

»48 Stunden ...« Blogroman Teil 7


Gerrit. Träge hob Gerrit die Hand und schaute auf die Uhr. Die Notbeleuchtung ließ die Ziffern dramatisch leuchten, was nur noch unterstrich, wie irrsinnig es war, nachts um zwei auf einem Büroflur zu liegen und sich nach Schlaf zu sehnen, der einfach nicht kommen wollte.

Dabei war er seit Wochen übermüdet. Sein Vater hatte die Firma jahrzehntelang geführt. Anfangs hatte er unternehmerischen Mut bewiesen, immer wieder auf neue Technologien gesetzt und den Betrieb Stück für Stück ausgebaut. Doch hatte die Vorsicht mit zunehmendem Alter seinen Innovationsgeist ersetzt. Die Produktion war veraltet, mit den Preisen der Konkurrenz konnten sie kaum mithalten. Seit Gerrit in den Chefsessel gewechselt war, gab er sein Bestes, aber es war Schwerstarbeit, die Firma wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das kostete ihn Sechzehn-Stunden-Tage im Büro und schlaflose Nächte.

»Woran denkst du?«, fragte Katja ihn unvermittelt.

Gerrit seufzte. »Ich dachte, du schläfst.«

»Hm, würde ich gern. Aber du atmest so bedeutungsschwer und kannst keine zwei Minuten ruhig liegen. Ich schätze, das liegt nicht an mir.«

»Wow, solltest du plötzlich zu Selbstzweifeln fähig sein?«, rutschte es ihm heraus, was ihm gleich leidtat, zumal Katja scharf die Luft einsog. »Sorry, ich wollte nicht auf dir herumhacken. Ich bin nur insgesamt in recht ... nennen wir es eine fatalistische Stimmung.«

»Weil es in der Firma nicht so gut läuft?«

Er schlug die Augen auf und sah an die gespenstisch beleuchtete Decke. »Woher weißt du davon?«

»Ach, so ein Betrieb ist ein Mikrokosmos, da wird geredet.« So beiläufig Katja das sagte, es saß.

Gerrit richtete sich auf. »Mir war nicht bewusst, dass es so offensichtlich ist.«

»In der Produktion langweilen sich die Arbeiter, die Buchhaltung muss sich neuerdings jede Zahlungsanweisung genehmigen lassen, der Einkauf soll sich alle Bestellungen absegnen lassen. Was erwartest du? Die Leute sind nicht dumm.«

»Nein, offensichtlich nicht.« Wieder ließ er sich zurück auf den Boden sinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe überlegt, ob ich mit dem Betriebsrat und den Abteilungsleitern reden soll. Aber ich wollte nicht, dass sich die Leute Sorgen machen. Nicht, solange noch Hoffnung ist, die Schieflage aufzufangen.«

»Ich sag’s nicht gern, aber es wäre besser gewesen, du hättest es getan. Ich glaube, für die Menschen hier in der Firma ist es wichtig, zu wissen, dass du eine Wahrnehmung für die Misere hast und sie anpackst. Nach allem, was ich gehört habe, war dein Vater in diesem Punkt in den letzten Jahren ... na ja, ziemlich beratungsresistent. Er hat sich jede Nachfrage oder Einmischung verbeten.«

Gerrit hatte die Probleme bei Brandner und Sohn natürlich mit seinem besten Freund besprochen. Doch der war ein Außenstehender und sah nicht, wie viel an diesem Betrieb hing. Jetzt mit Katja zu reden, die ein Teil des Systems war, tat ihm unerwartet gut.

»In der nächsten Woche habe ich einen wichtigen Termin, in dem es um einen neuen Großauftrag geht. Wenn der verbindlich reinkommt, gibt die Bank grünes Licht für weitere Kredite. Wir können dringend benötigte Maschinen anschaffen, was uns den Hals retten kann.«

»Was soll mir das sagen? Dass du auf eine positive Nachricht wartest, ehe du die Katze aus dem Sack lässt?«

»So ungefähr.«

Eine Weile blieb es still, weil sie über seine Worte nachdachte. »Ich glaube, das wird die Leute fürs Erste beruhigen.«

»Dann habe ich also dein offizielles Okay?«, fragte er, wobei seine Stimme vor Zynismus nur so troff. Es war kaum heraus, das hätte er sich schon wieder ohrfeigen können. Wieso schlug er Katja gegenüber so oft diesen bornierten Tonfall an? Ein Weilchen grübelte stumm und widerstand dem Drang, sich erneut zu entschuldigen. Noch einmal würde sie ihn nicht mit einer lapidaren Erklärung zu seiner fatalistischen Stimmung davonkommen lassen. Diesmal würde sie es konkreter wissen wollen. Er dachte also besser gründlich nach, ehe er sich äußerte.

Nur schmeckte ihm das, was er fand, als er in sich hörte, nicht. Die Wahrheit war nämlich, dass er wollte, dass sie ihn für einen tollen Hecht hielt. Einen Mann, der jedes Hindernis aus dem Weg räumte. Nicht für einen Looser, der mit roten Zahlen jonglierte und sich davor drückte, seiner Belegschaft reinen Wein einzuschenken. Wo kam das her? Solche Gedanken machte er sich doch sonst nicht. Gut, er war zu Selbstkritik fähig, trotzdem hatte er normalerweise kein Ego-Problem.

»Na? Überlegst du, wie du dich für deine Großkotzigkeit entschuldigen sollst?«, fragte Katja, als von ihm nichts kam.

Er beschloss, erst mal vage zu antworten. »Wieso denkst du, dass ich das will?«

»Weil du so nicht bist. Kein arroganter Snob, meine ich. Sonst hättest du dich auch vorhin nicht entschuldigt.«

Er lachte leise. »Warum habe ich das Gefühl, einer Gedankenleserin ausgeliefert zu sein?«

Sie kicherte so glockenhell, dass es ihn berührte. »Weil du das bist. Und du hast Glück, meine Glaskugel funktioniert auch da, wo kein Handy empfang hat.«

»Hm, jetzt wird es spannend: Was ist darin über mich zu sehen?«

»Ach, das ist leicht. Ich prophezeie dir, dass du aus dem Haus stürmst, sobald der Putztrupp aufsperrt. Anschließend wirst du deinen Kühlschrank plündern und eine Stunde unter der Dusche stehen.«

Gerrit lachte leise. »Es gefällt mir, dass du offen ansprichst, dass ich mich im Ton vergriffen habe, ohne zickig oder verstimmt zu reagieren. Und ja, du hast Recht. Ich wollte dich nicht so anfahren. Ich stehe unter enormem Druck, aber das ist keine Entschuldigung. Ich schätze, ich möchte vor dir einfach ... gut dastehen. Dass du mich mit meinen Problemen konfrontierst, stört dieses Bild.«

Eine Weile schien sie über seine Offenheit platt zu sein. Dann konterte sie mit einer frechen Antwort. »Gut dazustehen dürfte dir schwerfallen, da du auf dem Boden liegst.«

Er ahnte, dass sie ebenso überfordert und befangen war wie er. Eingesperrt mit einem Wildfremden, gefangen in einem Gespräch, das sie so normalerweise nicht führen würden. Dennoch, ihre Flapsigkeit ärgerte ihn. Er stand auf. »Ich bin gleich wieder da.« Gerrit streckte die steifen Glieder, ehe er mit großen Schritten auf die Toilette zuging. Dort mochte es ungemütlich sein, aber es war der einzige Rückzugsort auf dieser Etage.

Die Tür war schon beinahe hinter ihm zugefallen, da hörte er Katja rufen. »Hey, es war nicht böse gemeint. Aber ich will eben auch nicht schlecht dastehen.«

in Lächeln stahl sich auf Gerrits Lippen. Er wusch sich die Hände und spritzte Wasser in sein Gesicht. Dann ging er lässig zurück zu dem provisorischen Lagerplatz.

»Mir fehlt die Anleitung für ... für das hier«, fiel Katja über ihn her, kaum dass er wieder saß. »Vor ein paar Stunden warst du noch mein Boss. Wenn es nach der Personalabteilung geht, die mich für eine Urlaubsvertretung in ein paar Wochen engagiert hat, wirst du es bald wieder sein. Das macht es mir nicht leicht. Außerdem kenne ich dich kaum. Ich weiß nicht, wie offen ich dir gegenüber sein darf und was ich besser für mich behalte. Verwendest du es irgendwann gegen mich? Sagst du die Urlaubsvertretung ab, wenn du mich nicht magst?«

Sie sprach so schnell, dass er Mühe hatte mitzukommen. Gerrit griff nach ihrer Hand. Augenblicklich verstummte sie.

»Nur, um das klarzustellen: Ich bin kein Schwein. Ich kann dein berufliches Engagement und diese Ausnahmesituation sehr wohl voneinander trennen.« Er sagte es ganz sachlich, dabei prickelten seine Fingerspitzen dort, wo er Katja berührte. Herrje, es war, als würde er im Winter eine Türklinke anfassen und einen dieser Mini-Stromschläge abbekommen. Er wollte die Finger schon wieder wegziehen, aber sie hielt die Hand ganz ruhig. Also schien es ihr nicht unangenehm zu sein. Gerrit überlegte, wann ihn eine so harmlose Berührung zuletzt derart aus dem Takt gebracht hatte – und kam nicht drauf. Das musste in der Grundschule gewesen sein. Wenn überhaupt.

Und es kam noch schlimmer. Katja drehte ihre Hand in seiner und schob die Fingerkuppen zwischen seine, so dass sie leicht ineinander verhakt waren. Doch während sein Herz raste, schien sie abgebrühter, denn sie gähnte. Als hätte die zarte Berührung nicht nur ihren heftigen Redeschwall gebremst, sondern sie tatsächlich beruhigt.

»Mein Gott, es ist drei Uhr. Wenn du dich morgen nicht mit meiner miesen Laune umschlagen willst, sollten wir langsam schlafen.«

»Klar, das ...« Er verwob seine Finger fester mit ihren. »Das sollten wir wohl.«

Katja lächelte ihn an und brachte ein träges »schlaf schön!« heraus, ehe ihr die Augen zufielen.

Gerrit lauschte auf ihren immer flacher werdenden Atem, bis er sicher war, dass sie schlief. Dann rutschte er ein Stück näher an Katja heran und fand eine Position, in der er sich in seine bevorzugte Schlafhaltung drehen konnte – ohne dabei ihre Hand loszulassen.

Weitere Teile des Blogromans »48 Stunden zwischen Himmel und Parterre« lesen Sie immer donnerstags und montags.


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